Kaltblütige Morde – Der NSU-Untersuchungsausschuss besucht die Tatorte in München und Nürnberg 

Um sich einen eigenen Eindruck von den örtlichen Gegebenheiten und genauen Tatumständen zu machen, haben sich die Mitglieder des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses dazu entschieden, vor dem Start in die Beweisaufnahme Ortstermine an allen Tatorten des NSU in München und Nürnberg durchzuführen.

Am 02. Juni wurden die Orte der beiden Morde in München besucht, der Lebensmittelladen von Habil Kılıç in der Bad-Schachener-Straße in München-Ramersdorf und der Schlüsseldienst von Theodoros Boulgarides in der Trappentreustraße im Münchener Westend. Am 20. Juni hat der Ausschuss dann die vier NSU-Tatorte in Nürnberg besucht. Den Ort des Sprengstoffanschlags auf die Pilsbar ‚Sonnenschein‘ in der Nürnberger Südstadt sowie die Tatorte der Morde an dem Blumenhändler Enver Şimşek, an dem Schneider Abdurrahim Özüdoğru und dem Imbissstandbetreiber İsmail Yaşar.

Toni Schuberl, Vorsitzender des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses und rechtspolitischer Sprecher der GRÜNEN Landtagsfraktion, fand die Ortstermine in München sehr eindrucksvoll: „Beide Taten in München hatten den Charakter von eiskalt und professionell durchgeführten Morden. Die Täter waren dabei jeweils bereit ein relativ hohes Risiko der Entdeckung einzugehen.“ Für Cemal Bozoğlu, dem zweiten GRÜNEN Ausschussmitglied, wurde noch einmal bestätigt, dass die Attentatsorte kaum ohne lokale Helfer*innen ausfindig zu machen waren: „Bei beiden Tatorten handelt es sich jeweils um kleine, relativ unscheinbare Ladenlokale, deren Außengestaltung keinen Hinweis auf Inhaber mit Migrationshintergrund gibt und die ohne besondere Ortskenntnisse kaum ausfindig zu machen sind.“

In München-Ramersdorf wurde der Inhaber Habil Kılıç am 29.August 2001 am helllichten Tag mit zwei Kopfschüssen in seinem Lebensmittelladen ermordet. Der Laden befindet sich nur gut 100 Meter von einer großen Kaserne der Bereitschaftspolizei entfernt. Die Lage des Tatorts und der Ablauf der Tat machen deutlich, dass der Mord mit einer erstaunlichen Kaltblütigkeit verübt wurde. Der ehemalige Schlüsseldienstladen von Theodoros Boulgarides in der Trappentreustraße im Münchener-Westend wurde erst zwei Wochen vor seiner Ermordung am 15. Juni 2005 eröffnet. Von außen gab es keinen Hinweis, dass der Schlüsseldienst von einem Inhaber mit Migrationsgeschichte geführt wird. Das Ladenlokal lag an einer sehr belebten Straße. In unmittelbarer Nähe befinden sich eine Bar, eine Gaststätte und weitere Geschäfte. Direkt gegenüber liegt zudem eine Bushaltestelle und die stark befahrene Auffahrt zum Mittleren Ring in München. Die Täter konnten also nicht davon ausgehen, dass sie in einer so belebten Gegend unerkannt fliehen können.

In Nürnberg besuchte der Ausschuss die frühere Pilsbar „Sonnenschein“ in der Scheurlstraße in der Nürnberger Südstadt. Hier fand am 23. Juni 1999 ein erster Sprengstoffanschlag auf den Inhaber des Lokals Mehmet O. statt, den dieser nur überlebte, weil die in einer Taschenlampe deponierte Bombe nicht vollständig explodierte. Mehmet O. hatte die Bar erst am Vortag mit einem Fest eröffnet.

Anschließend wurde der Tatort in der Scharrerstraße besucht, wo sich früher der mobile Imbisstand von İsmail Yaşar befand, den der NSU am 09. Juni 2005 mit fünf Schüssen in Kopf und Oberkörper ermordete. İsmail Yaşar war durch sein freundliches Wesen und seine Hilfsbereitschaft im ganzen Stadtviertel beliebt und bekannt. In unmittelbarer Nähe zum Tatort befindet sich ein belebtes Stadtteilkulturzentrum.

Danach wurde der Tatort in der Gyulaer Straße besucht, in dem sich früher die Änderungsschneiderei von Abdurrahim Özüdoğru befand. Der NSU ermordete ihn dort am Nachmittag des 13. Juni 2001 mit zwei Kopfschüssen. An dem kleinen Ladenlokal gab es keine Hinweise auf einen Inhaber mit Migrationshintergrund. Özüdoğru war das zweite Mordopfer des NSU.

Die Ortstermine in Nürnberg endeten mit einem Besuch am Enver-Şimşek-Platz, wo sich früher der mobile Blumenstand von Enver Şimşek befand. Der NSU verletzte ihn dort als erstes Opfer am 09. September 2000 mit insgesamt acht Schüssen so schwer, dass er zwei Tage später im Krankenhaus verstarb. Şimşek war am Tag der Tat nur zufällig am Tatort, da ein Mitarbeiter kurzfristig erkrankte und er deshalb einspringen musste. Der Tatort liegt an einer Ausfallstraße in der Nähe des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes und ist für Ortsunkundige nur schwer ausfindig zu machen.

„Die Auswahl der Tatorte in Nürnberg, von denen einige nur schwer zu entdecken sind und von außen nicht auf Inhaber mit Migrationshintergrund schließen ließen, ist nur schwer ohne ortskundige Unterstützer*innen vorstellbar,“ betont Cemal Bozoğlu. Bei den Tatortbegehungen wurde auch eine immer höhere Risikobereitschaft und Kaltblütigkeit im Vorgehen der Täter deutlich. Mit Ausnahme des Blumenstandes von Enver Şimşek befanden sich alle weiteren Tatorte in belebten Wohngegenden, in denen die Täter nicht sicher davon ausgehen konnten, unerkannt zu entkommen. Nach den Ortsterminen in München und Nürnberg betonten alle Abgeordneten, wie wichtig diese persönlichen Eindrücke gerade im Vorfeld des bald beginnenden Aktenstudiums und der Zeugenladung für die weitere Ausschussarbeit seien.

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